Hatun Sürücü wurde am 07. Februar 2005 auf offener Straße in Berlin-Tempelhof von ihrem jüngeren Bruder erschossen. Die 23-Jährige musste sterben, weil sie ein freies und selbstbestimmtes Leben führen wollte. Sie hatte sich aus einer Ehe befreit, zu der sie im Alter von 15 Jahren gezwungen wurde. Damit verstieß sie gegen die strengen Regeln ihrer Familie und beschmutzte nach deren Verständnis die Familienehre.
Das Konzept der Familienehre ist in traditionell patriarchalisch geprägten Gesellschaften eng an die Sexualität der weiblichen Familienmitglieder gekoppelt. Während die Frauen als Trägerinnen der Familienehre gelten, obliegt es den Männern diese zu bewahren und etwaige „Fehltritte“ zu verhindern. Der Verlust der Jungfräulichkeit, das Scheitern einer Ehe, eine Vergewaltigung sowie außereheliche Beziehungen und Schwangerschaften bedeuten eine Ehrverletzung. Darüber hinaus kann die Familienehre aber auch bereits durch Gespräche mit einem fremden Mann oder bloße Gerüchte beschädigt werden. Ist die Familienehre beschmutzt bleibt nach dieser tradierten Ehrvorstellung oft nur der Mord an der betreffenden Frau zur Wiederherstellung der Ehre.
Hatun Sürücü fiel vor 11 Jahren einem solchen „Ehren“-Mord zum Opfer. Verurteilt wurde damals nur der jüngste Bruder, Ayhan Sürücü, der die Tat gestanden hatte. Er saß neuneinhalb Jahre in Deutschland in Haft und wurde danach in die Türkei abgeschoben. Zwei andere Brüder, Mutlu und Alpaslan Sürücü, waren zwar angeklagt, Ayhan zum Mord angestiftet und die Tatwaffe besorgt zu haben, wurden aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die zwei Brüder setzten sich in die Türkei ab. Als das Urteil im Jahr 2007 vom Bundesgerichtshof aufgehoben wurde, wurden sie international zur Fahndung ausgeschrieben. Die Türkei lieferte die Angeklagten nicht aus und leitete 2013 schließlich ein eigenes Strafverfahren ein. Der erste Verhandlungstag war am 26. Januar 2016, im April wurden einige Zeugen angehört. Die Verhandlungen in Istanbul gehen am 11. Oktober 2016 weiter.
Der Mord an Hatun Sürücü ist leider bei weitem kein Einzelfall. Im Jahr 2000 schätzte die UN die Zahl der „Ehren“-Mordopfer auf 5000 jährlich. Laut einer Studie des Bundeskriminalamtes von 2011 wurden in Deutschland zwischen 1996 und 2005 im Schnitt 12 „Ehren“-Morde pro Jahr gerichtlich erfasst. Derzeit beschäftigen folgende Fälle die deutsche Justiz.
In zwei aktuellen Fällen von Ehrverbrechen konnten die Täter verurteilt werden:
Wie die vielen aktuellen Fälle zeigen, ist der Handlungsbedarf für die Unterstützung der Betroffenen sehr hoch. So lange es kein Umdenken in den Communities gibt, so lange Brüder ihre Schwestern, Eltern ihre Töchter und Ehemänner ihre Frauen umbringen, müssen Schutzeinrichtungen und Fachberatungsstellen weiter ausgebaut und ihnen eine sichere Finanzierung gewährleistet werden.
Stand: 10/2016