Prozess gegen die Brüder von „Ehren“-Mordopfer Hatun Sürücü geht am 11. Oktober 2016 weiter

Hatun Sürücü wurde am 07. Februar 2005 auf offener Straße in Berlin-Tempelhof von ihrem jüngeren Bruder erschossen. Die 23-Jährige musste sterben, weil sie ein freies und selbstbestimmtes Leben führen wollte. Sie hatte sich aus einer Ehe befreit, zu der sie im Alter von 15 Jahren gezwungen wurde. Damit verstieß sie gegen die strengen Regeln ihrer Familie und beschmutzte nach deren Verständnis die Familienehre.

Das Konzept der Familienehre ist in traditionell patriarchalisch geprägten Gesellschaften eng an die Sexualität der weiblichen Familienmitglieder gekoppelt. Während die Frauen als Trägerinnen der Familienehre gelten, obliegt es den Männern diese zu bewahren und etwaige „Fehltritte“ zu verhindern. Der Verlust der Jungfräulichkeit, das Scheitern einer Ehe, eine Vergewaltigung sowie außereheliche Beziehungen und Schwangerschaften bedeuten eine Ehrverletzung. Darüber hinaus kann die Familienehre aber auch bereits durch Gespräche mit einem fremden Mann oder bloße Gerüchte beschädigt werden. Ist die Familienehre beschmutzt bleibt nach dieser tradierten Ehrvorstellung oft nur der Mord an der betreffenden Frau zur Wiederherstellung der Ehre.

Hatun Sürücü fiel vor 11 Jahren einem solchen „Ehren“-Mord zum Opfer. Verurteilt wurde damals nur der jüngste Bruder, Ayhan Sürücü, der die Tat gestanden hatte. Er saß neuneinhalb Jahre in Deutschland in Haft und wurde danach in die Türkei abgeschoben. Zwei andere Brüder, Mutlu und Alpaslan Sürücü, waren zwar angeklagt, Ayhan zum Mord angestiftet und die Tatwaffe besorgt zu haben, wurden aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die zwei Brüder setzten sich in die Türkei ab. Als das Urteil im Jahr 2007 vom Bundesgerichtshof aufgehoben wurde, wurden sie international zur Fahndung ausgeschrieben. Die Türkei lieferte die Angeklagten nicht aus und leitete 2013 schließlich ein eigenes Strafverfahren ein. Der erste Verhandlungstag war am 26. Januar 2016, im April wurden einige Zeugen angehört. Die Verhandlungen in Istanbul gehen am 11. Oktober 2016 weiter.

Der Mord an Hatun Sürücü ist leider bei weitem kein Einzelfall. Im Jahr 2000 schätzte die UN die Zahl der „Ehren“-Mordopfer auf 5000 jährlich. Laut einer Studie des Bundeskriminalamtes von 2011 wurden in Deutschland zwischen 1996 und 2005 im Schnitt 12 „Ehren“-Morde pro Jahr gerichtlich erfasst. Derzeit beschäftigen folgende Fälle die deutsche Justiz.

  • Die 35-jährige Jesidin Hanaa S. aus Solingen verschwand am 21. April 2015 spurlos. Bis heute ist ihr Verbleib ungeklärt. Die Beamten der Kriminalpolizei sind allerdings davon überzeugt, dass Hanaa S. Opfer eines „Ehren“-Mordes wurde. Seit dem 27. Juni 2016 müssen sich fünf Verwandte der sechsfachen Mutter, darunter ihr ältester Sohn (18) und ihr Ehemann, vor dem Landgericht Wuppertal verantworten. Hanaa S. war im Alter von 15 Jahren zwangsverheiratet worden und hatte sich von ihrem gewalttätigen Ehemann getrennt.
  • Die 21-jährige Kurdin Shilan H. wurde am 13. März 2016 während einer Hochzeitsfeier in Hannover von ihrem Cousin und Ex-Verlobten Sefin P. erschossen. Die Studentin sollte nach dem Willen ihres Onkels ihren Cousin ehelichen, doch die junge Frau widersetzte sich und überzeugte ihren Vater, die Verlobung zu lösen. Der Mörder ist seit der Tat flüchtig.
  •  Die 20-jährige Syrerin Rokstan wurde am 30. September 2015 in Dessau ermordet. Rokstan war in Syrien von drei Soldaten vergewaltigt worden. Obwohl sie das Opfer war, galt sie für ihre Familie als unrein und als „Beschmutzerin“ der Familienehre. Im Verdacht stehen die Eltern der jungen Syrerin. Der flüchtige Vater wird per Haftbefehl gesucht.

In zwei aktuellen Fällen von Ehrverbrechen konnten die Täter verurteilt werden:

  • Die Eltern von Rabia K. wurden vom Landgericht Frankfurt Oder zu Geldstrafen von 1800 und 1500 Euro verurteilt, nachdem sie ihre Tochter Rabia K. und deren Freund Denys S. angegriffen und mit dem Tod bedroht hatten. Der Vater ging im Mai 2014 mit einem Kantholz auf Denys S. los, während die Mutter Rabia würgte und mit einem Ziegelstein bedrohte. Die libanesische Familie duldete die Beziehung zwischen Rabia K. und Denys S. nicht. Eine Tötungsabsicht ließ sich allerdings nicht nachweisen. Rabia und Denys leben heute aus Angst vor der Familie in einem Zeugenschutzprogramm.
  • Ein 22-Jähriger, der seine schwangere Schwester im Januar 2016 mit 15 Messerstichen getötet hatte, wurde durch das Landgericht Hanau zu 12 Jahren Freiheitsstrafe wegen Totschlags verurteilt. Der 26-jährige Bruder, der mit auf die Schwester und ihren Ehemann eingeprügelt hatte, wurde zu 9 Monaten Freiheitsstrafe und 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Die Schwester hatte eine Affäre gehabt und wollte sich von ihrem Ehemann trennen. Der vorsitzende Richter sieht das Motiv für die Tat in der verletzen Familienehre, lehnt aber die Bezeichnung „Ehren“-Mord ab, weil es sich nicht um Mord sondern um Totschlag handele.

Wie die vielen aktuellen Fälle zeigen, ist der Handlungsbedarf für die Unterstützung der Betroffenen sehr hoch. So lange es kein Umdenken in den Communities gibt, so lange Brüder ihre Schwestern, Eltern ihre Töchter und Ehemänner ihre Frauen umbringen, müssen Schutzeinrichtungen und Fachberatungsstellen weiter ausgebaut und ihnen eine sichere Finanzierung gewährleistet werden.

Stand: 10/2016