12.03.2015: Urteil im Fall Nasser: Die Angeklagten erhalten Geldstrafen

Fünf Minuten, wenn überhaupt – so lange dauerte der auf zwei Stunden anberaumte Prozesstermin des 18-Jährigen Nebenklägers Nasser gegen seine Familie im Berliner Amtsgericht Tiergarten. Die Angeklagten, Nassers Vater und zwei seiner Onkel, sind gar nicht erst zum Gerichtstermin erschienen. In ihrer Abwesenheit fällte die Richterin das Urteil: die Angeklagten erhalten Strafbefehle über 90 Tagessätze à 15 Euro, das sind 1350 Euro pro Person. Sie gelten somit nicht als vorbestraft.

Die Hintergründe zum Fall Nasser

Vor Prozessbeginn hatte Nasser schwere Vorwürfe erhoben: Immer wieder sei er Bedrohungen und körperlichen Misshandlungen ausgesetzt gewesen. Nachdem seine Eltern von seiner Homosexualität erfuhren, floh er von zu Hause. Da war er gerade mal 15 Jahre alt und wusste nicht wohin. Es gab und gibt noch immer keine speziellen Schutzeinrichtungen für Jungen. Er kam für ein paar Tage bei einem Freund unter. Als die Sehnsucht ihn zurücktrieb, wurde ihm mitgeteilt, dass eine Heirat mit einem Mädchen aus dem Libanon arrangiert worden sei. Da wandte er sich an das Jugendamt, das ihn in Obhut nahm. Seinen Eltern wurde das Sorgerecht entzogen.

Aber noch einmal trieben Nasser die Sehnsucht und falsche Informationen seiner Mutter zurück nach Hause. Und diesmal entführten ihn der Vater und die Onkel ins Ausland. Zu Nassers Glück hatte sein gesetzlicher Vormund eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Rumänische Grenzbeamte wurden auf ihn aufmerksam und Nasser wurde zurück nach Berlin gebracht. Der offizielle Tatvorwurf der Anklage lautete Freiheitsberaubung bzw. Entziehung eines Minderjährigen. Alles andere, wie die angedrohte Zwangsheirat, ließe sich nicht beweisen.

Von seinen Vorwürfen hatte Nasser am 5. März 2015 bei einem Pressegespräch mit ausgewählten PressevertreterInnen berichtet. Auch die Frauenbeauftragte von Friedrichshain-Kreuzberg und Koordinatorin des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung, Petra Koch-Knöbel, sowie TERRE DES FEMMES-Referentin Monika Michell waren anwesend und gaben zu Beginn ein kurzes Statement (PDF-Datei) ab. Beide betonten, dass seit langem bekannt ist, dass es an geeigneten Beratungs- und Unterbringungseinrichtungen für Betroffene von Zwangsheirat fehlt. Das gilt sowohl für Mädchen als auch für Jungen, auch wenn die Situation für Jungen noch schwieriger ist. Hier besteht ein dringender Handlungsbedarf!

Zwangsheirat und die strafrechtliche Verfolgung

Seit Juli 2011 ist Zwangsheirat ein eigener Straftatbestand. Seit Dezember 2014 gibt es das erste Urteil dazu: Das Amtsgericht Potsdam verurteilte einen Vater, der seine 18-jährige Tochter gegen ihren Willen zu einer Ehe mit dem Sohn eines Arbeitskollegen gezwungen hatte, zu einem Jahr auf Bewährung. Der Prozess war für die junge Frau eine Tortur: Der Verteidiger hat ihre Glaubwürdigkeit angezweifelt und ein psychologisches Gutachten verlangt. Hinzu kam der Druck/die Bedrohung durch das soziale Umfeld. Viele verlässt der Mut angesichts der direkten Konfrontation mit ihrer Familien, den Eltern und Geschwistern, und sie machen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Weil sie jedoch die wichtigsten, weil oftmals einzigen ZeugInnen sind, platzt dann der Prozess.

TERRE DES FEMMES fordert daher einen rechtlichen Anspruch auf eine psychosoziale Prozessbegleitung auch für Volljährige! Im bisherigen Gesetzentwurf zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren des Bundesjustizministers gilt dieser Anspruch nur für Minderjährige.

Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums, die 2011 veröffentlicht wurde, waren 2008 insgesamt 3.443 Zwangsheiratsfälle gezählt worden. Ein knappes Drittel der Betroffenen war minderjährig. Diese besonders verwundbare Gruppe der unter 18-Jährigen war mehrheitlich von religiösen bzw. sozialen Zwangsverheiratungen bedroht oder betroffen. Da der deutsche Gesetzgeber aber nur standesamtliche Eheschließungen anerkennt, fallen die religiös oder sozial geschlossenen Zwangsheiraten nicht unter den weiter oben erwähnten Straftatbestand und bleiben somit ungestraft. Dies ist ein fatales Signal, das der deutsche Staat aussendet. Daher setzt sich TERRE DES FEMMES dafür ein, dass der entsprechende Paragraf 237 (Zwangsheirat) reformiert wird, und weiß dabei auch die Berliner Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen, Dilek Kolat, an ihrer Seite.

TERRE DES FEMMES arbeitet seit vielen Jahren zum Thema Zwangsheirat

Von Zwangsheirat betroffen sind vor allem Mädchen und Frauen, aber auch Jungen und Männer werden Opfer von Zwangsverheiratung. Eine Umfrage des Berliner Arbeitskreises gegen Zwangsverheiratung an über 700 Institutionen ergab, dass im Jahr 2013 allein in Berlin 460 Fälle von Zwangsverheiratung bekannt wurden. TERRE DES FEMMES betreute 2014 alleine 62 Fälle zu Gewalt im Namen der Ehre in Berlin.

Immer wieder machte TERRE DES FEMMES in den letzten 10 Jahren auf die Menschenrechtsverletzung Zwangsheirat aufmerksam und holte das Thema aus der Tabu-Zone. Zuletzt anlässlich des 10. Todestag des „Ehren“-Mordopfers Hatun Sürücü am 7. Februar 2015.

Für die direkte (Präventions-)Arbeit mit Jugendlichen entwickelte TERRE DES FEMMES u.a. eine Unterrichtsmappe Zwangsheirat und bietet aktuell ein interaktives Theaterstück zum Thema an, das gemeinsam mit der Theatergruppe Mensch: Theater!, der mobilen Beratungsstelle Yasemin und einem externen Mädchenbeirat aus (ehemals) Betroffenen entwickelt wurde. Das Stück „Mein Leben. Meine Liebe. Meine Ehre?“ handelt von Konflikten, unter denen besonders Jugendliche aus patriarchalisch geprägten Familien leiden: Kontrolle durch Familienmitglieder, Isolierung von den MitschülerInnen, Verbot von Liebesbeziehungen und Ächtung von Homosexualität.

Pressemitteilung von TERRE DES FEMMES zum Prozessbeginn in Berlin (05.03.2015)